Zweirad-Sisyphus

JAKOB STROBEL Y SERRA

Das Dorf Petra liegt anders als sein viel berühmterer Namensvetter nicht am östlichen, sondern im westlichen Mittelmeer, mitten auf der Insel Mallorca, und ist für wenig mehr als für die Leistung bekannt, die Heimat des Franziskanermönches Juniper Serra zu sein. Fra Juniper war ein unermüdlicher Missionar, der das Glück hatte, daß es die von ihm eingerichteten Missionsstationen an der Westküste Amerikas fast ausnahmslos zu etwas gebracht haben. Deswegen kommt hin und wieder ein amerikanischer Tourist in das stille Dorf Petra, um das Geburtshaus des Gründers von Los Angeles, San Francisco, Santa Barbara und einiger anderer berühmter Städte Kaliforniens zu sehen. Da es indes nichts anderes als eine finstere Bauernkate und ein kleines Museum mit Porträts von Gottesmännern und Preßholzmodellen von Missionsstationen zu sehen gibt, fahren die Amerikaner schnell wieder weiter - ohne auch nur zu ahnen, daß sie nicht die einzigen Besucher weit und breit sind. Denn zu dieser Jahreszeit stößt man in Orten wie Petra viel häufiger auf einen Typus von Touristen, der auffallend angezogen, schlecht zu Fuß, an Bruder Juniper nicht interessiert, doch dafür um so mehr um sich selbst besorgt ist: den deutschsprachigen mallorquinischen Sportradfahrer.

Dieser Typus versammelt sich grundsätzlich und ausschließlich auf den Dorfplätzen, die deswegen oft in scharfem Kontrast zur Menschenleere des übrigen Ortes stehen. Auch in Petra fühlt man sich ein wenig an Hitchcocks "Vögel" erinnert, wenn man vom Missionsmuseum durch ausgestorbene Gassen zum Dorfplatz schlendert und sich dort plötzlich einer bunten Schar gegenübersieht, die pausenlos über Reifenprofile, Sattelfütterungen oder Zahnradkränze fachsimpelnd schnattert.

Im Frühling ist Mallorca die Insel des Fahrrads. Die Pedaleure sind eine ausgesprochen angenehme Klientel, weil sie auch bei schlechtem Wetter kommen, die Luft nicht verpesten, die Einheimischen in Frieden lassen, vergleichsweise wenig Alkohol trinken, sonst aber viel Geld für eine gepflegte Unterkunft und ein gesundes Mahl ausgeben. Nur das Verhältnis der Fahrradfahrer zu den Autofahrern ist eher zerrüttet als harmonisch, weil die einen zu langsam sind, wenn es bergauf, und die anderen, wenn es bergab geht. Zum Glück gibt es dank des segensreichen Wirkens der Europäischen Union auf der Insel ein exquisites Netz exzellent asphaltierter Nebenstraßen, die allerdings derart intensiv von Radlern genutzt werden, daß allerorten dreieckige Warnschilder mit einem Fahrrad darin aufgestellt werden mußten. Unbeantwortet ist bis heute die Frage, wer vor wem gewarnt werden müßte.

Denn die Fahrradfahrer-Pelotons sind oft so tief mit ihren Exerzitien beschäftigt, daß sie sich um den Straßenverkehr nur beiläufig kümmern können, etwa wenn sie, die gesamte Fahrbahnbreite einnehmend, über die Strategie für den nächsten Anstieg diskutieren. Als fauler Autofahrer hat man beim mühseligen Überholen bergauf und halsbrecherischen Überholtwerden bergab viel Zeit, über die Radfahrer nachzudenken - etwa darüber, ob sie länger leben werden als man selbst und ob sie auch einmal allein oder immer nur im Pulk auftreten; oder warum sie alle wie die Profis diese bunten Trikots mit den Sponsorenschriftzügen tragen, als seien sie Buben auf dem Bolzplatz mit Bayern-München-Leibchen, obwohl sie im Gegensatz zu den Profis kaum Geld von den Mobiltelefonanbietern oder Nudelfabrikanten bekommen dürften. Man fragt sich auch, warum die Radfahrer so gut wie immer in den Dialekten der deutschen Zunge sprechen, als hätten Menschen anderer Kulturkreise Besseres zu tun, als sich im Urlaub abzustrampeln; vor allem aber fragt man sich, warum sie selten jünger sind als Frührentner, obwohl sie meistens ganz anders aussehen als Frührentner, nämlich so, als bestünden sie ausschließlich aus Haut, Knochen, Sehnen und Muskeln.

Die Fahrradfahrer Mallorcas sind wahrscheinlich viel mehr als Fitness-Fanatiker, Lebenskrisenausschwitzer, Alterungsbekämpfer oder die Kegelclubs der gebildeten Stände. Sie müssen so etwas wie moderne Sisyphusse sein, die Hügel und Berge erklimmen, sie wieder hinuntersausen, nur um zum nächsten Berg zu rasen, den sie wiederum hinaufstrampeln, als treibe sie ein unerbittlicher Zwang. Vielleicht büßen sie für uns alle, für den Frevel unserer Faulheit, die Sünde unserer Trägheit, denn ein konspirativ spiritueller Hauch, der Odem der Selbstkasteiung umweht die verschworene Gemeinschaft der rasenden Radfahrer allemal, selbst wenn sie wie eine Schar Papageien auf dem Dorfplatz von Petra sitzt.

Sie haben sogar ein eigenes Sanktuarium, die Hermitage von Sankt Salvador, die auf einer fünfhundert Meter hohen Felsnase in der Nahe von Felanitx und keine halbe Tagesetappe von Petra entfernt liegt. Seit dem vierzehnten Jahrhundert ist die Ermita eine Wallfahrtsstätte, weil damals ein Hirte hier eine Madonnenstatue fand. Richtig populär wurde der Ort aber erst, als die ersten Radfahrer die steile Straße hinaufkamen und ihre Trikots an die Wände hängten, die unter anderem von der Arbeitskleidung des mehrfachen Radweltmeisters Guillem Timoner geschmückt werden. Unter den verblassenden Leibchen mit den Regenbogenfarben des Weltmeisters gönnen sich die Radfahrer einen Moment der Andacht. Dann verstummt ihr Geplapper und das Geklapper, das sie sonst immer mit ihrem Plastikschalenspezialschuhwerk veranstalten, wenn sie wie Betrunkene in Stöckelschuhen über das Pflaster staksen. Es ist ein schöner Moment.


Frankfurter Allgemeine Zeitung, Donnerstag, 21. April 2005, Nr. 92 / Seite R 1




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