Das Gregor-Prinzip

Zitiert aus SPIEGEL 45/2002 Seite 184-186

Früher gab es Gregor. Auf die Frage, was er seinem Studium der Betriebswirtschaft abgewinnen könne, pflegte er zu antworten: Ich will eine goldene Kreditkarte mit meinem Namen darauf und einen Porsche 911 mit einer blonden Frau darin. Das Prinzip Gregor war in der kleinen Universitätsstadt stark vertreten: Seine Anhänger waren notorisch gut gekleidet und schon vor Markttauglichkeit des ersten Mobiltelefons in der Lage, jedes Caféhaus in das Büro einer Unternehmensberatung zu verwandeln, indem sie sich einfach nur hinsetzten. Es war nicht schwierig, Gregor unerträglich zu finden. Ein materialistischer Mensch in einer materialistischen Welt, ohne Begeisterung, ohne Ideen und Werte. Wenigstens machte er keinen Hehl aus seinem umfassenden Desinteresse gegenüber Dingen, deren monetärer Gegenwert im Unklaren liegt.

Zum Prinzip Gregor gehörte auch Füsser. Er war die andere Seite der Medaille. Füsser wußte nicht, ob er das Philosophiestudium in Tübingen beginnen sollte, der Wissenschaft zuliebe, oder wegen des Biers in Köln. Seine Bücher bewahrte er in Haufen auf dem Boden auf, weil er in Regalen nichts wiederfand. Füssers Freunde waren zu dick oder zu dünn und mochten Geld, wenn es in einen Zigarettenautomat paßte. Ihr geisteswissenschaftliches Studium betrachteten sie als perfekte Vorbereitung auf die Arbeitslosigkeit: Man lernte, mit freier Zeiteinteilung, innerer Leere und sozialer Degradierung zurechtzukommen.

Gregor und Füsser begegneten sich nie, weil der eine aufstand, wenn der andere zu Bett ging - die Natur hatte ihnen unterschiedliche Lebensräume geschaffen. Trotzdem ähnelten sie sich wie die entgegengesetzten Enden einer Fahnenstange. Beide begehrten auf unterschiedliche Weise dieselbe Sache: Gregor die Anwesenheit, Füsser die Abwesenheit von möglichst viel Geld. Nina und Nele waren mit beiden befreundet. Sie studierten Jura, weil man damit "alles Mögliche" machen kann, und Geld war ihnen egal, solange die Rotweinbestände gut gefüllt und Secondhand-Läden samstags bis 16 Uhr geöffnet waren. Aus purem Interesse lernten Nina und Nele drei Sprachen, belegten Doppel-, Zweit- und Aufbaustudiengänge, absolvierten Praktika in den globalen Machtzentren der Welt und sprachen auf Partys über die Osterweiterung der EU. Meisterhaft täuschten sie sich selbst und die Eltern darüber hinweg, daß ihre Paradeausbildung nicht auf eine Berufswahl hinauslief.

Gregor und Füsser fanden sie rührend: Angehörige einer Gattung, die noch nicht weiß, daß sie vom Aussterben bedroht ist. Nina und Nele nämlich waren Prophetinnen eines neuen Zeitalters. Sie konnten mit oder ohne viel Geld leben, weil sie sich selbst und ihre Umgebung über andere Dinge definierten. Ihre Lieblingssätze lauteten: Geld macht nicht glücklich. Zweitens: Glück macht nicht satt. Drittens: Denkt an unsere Worte.

Ein paar Dinge hatten alle gemeinsam. Alle wußten, daß man beim Ausbruch des Dritten Weltkriegs einen feuchten Waschlappen mit Backpulver bestreut und vor den Mund preßt. Alle sollten es im Leben besser haben als ihre Eltern und wurden gleichzeitig wegen Anspruchsdenken und Wohlstandskindertum verunglimpft. Sie waren hochintelligent, überdurchschnittlich begabt, körperlich bei Kräften, kurz: Musterbeispiele künftiger Leistungsträger, Hoffnungsschimmer einer gerade wiedervereinigten Republik. Orientierungslosigkeit hatte man ihnen schon nachgesagt, bevor sie auf die Welt kamen.

Oft markiert ein unscheinbares Ereignis die Sollbruchstelle im System. Die Jahrtausendwende ist schon vorbei, und Gregor, Füsser, Nina und Nele haben sich in alle Winde zerstreut, als der Reissack umfällt. Nicht in China, sondern auf einer der Gartenpartys, von denen die Elterngeneration nicht genug bekommt, seit die Kinder aus dem Haus sind.

Auf einem dieser Feste im Sommer 2002 stellt sich durch Zufall heraus, daß erstens der gesamte mitgebrachte Wein und Sekt von Aldi stammt und zweitens alle Anwesenden inklusive der Gastgeberin dies längst an den Etiketten erkannt haben. Plötzlich erzählen die Mütter von Leuten wie Gregor, Füsser, Nina und Nele, wie sie drei Jahrzehnte lang beim Aldi-Einkauf hinter dem Gebäude geparkt, die Einkäufe in mitgebrachte Edeka-Tüten gepackt und für den Fall, daß ihnen ein Bekannter begegnete, den immer gleichen Satz bereitgehalten hätten: Aldi fülle teure Markenprodukte in billige Verpackungen - da wäre es doch idiotisch, mehr Geld auszugeben. Die Erleichterung ist groß, das ausbrechende Gelächter laut und lang. Es läutet eine Zeitenwende ein.

Wenig später ruft Gregor bei mir an. Er hat meinen Namen im Internet gefunden und will erzählen, was er so macht. Nach seinen beiden Prädikatsexamen ist er in die Hauptstadt gezogen und arbeitet bei Whoever & Whoever Incorporated. "Wie schön!", rufe ich und freue mich ehrlich für ihn, "wie geht's dem Porsche?" - "Weiß nicht", sagt Gregor langsam, "plötzlich wollte ich doch keinen haben." Außerdem überlegt er, zum Jahresende zu kündigen. Und schweigt. Auch mir fällt nichts mehr ein. Als ich das Gespräch beende, klingt mir etwas in den Ohren. Es ist das Echo eines langen Gelächters.

Ich rufe Freunde an und deren Freunde, Bekannte und deren Bekannte und stelle ihnen eine Frage: Braucht ihr Geld?

Die Ähnlichkeit der Antworten ist verblüffend: Nö. Ein bißchen. Wenn ich was brauche, geh ich arbeiten. Nur für Unabhängigkeit, Freiheit und Selbstbestimmtheit. Alles Wichtige ist unkäuflich. Meine Ego-Probleme löse ich beim Sport. Verzicht schafft Freiraum. Nur eine Befragte antwortet: Ich habe mir einen hohen Lebensstandard erarbeitet und will ihn behalten. Sie kommt aus Rußland.

"Freunde", rufe ich in die unendlichen Weiten der Telefonleitungen, "wir befinden uns in einer Wirtschaftsrezession. Wie wäre es, wenn ihr euch zusammenreißt, jede Menge Geld verdient und es wieder unter die Leute bringt?" Keine Antwort. Jemand gähnt, ein anderer lacht. "Herzchen", erwidert Nina, "fährst du eigentlich immer noch diesen schicken, 16 Jahre alten VW Polo?" Wieso, das ist ein super Auto, 250.000 Kilometer gelaufen und noch über ein Jahr TÜV. Nach zwanzig Anrufen und einem Blick in den Spiegel weiß ich Bescheid. Wir sparen nicht, wir geben bloß kein Geld aus. Kreditkarten-Gregor ist die Gallionsfigur einer sinkenden Handelsflotte. Die Besatzung hat sich ein Floß gebaut und treibt zu den Blockhütten an den Ufern einer Inselgruppe.

Was man weder mit autoritärer noch mit antiautoritärer Erziehung vermitteln kann, ist Existenzangst. Nach den Ergebnissen der Shell-Jugendstudie vom August dieses Jahres schaut die junge Generation trotz Börsencrash, Pleitewelle, Massenarbeitslosigkeit und Terror optimistischer denn je in die Zukunft. Jeder in seine eigene, versteht sich. Nach wie vor fehlt es am ideellen Überbau - der wohlvertraute Werteverlust bleibt unausgebügelt. Trotzdem wäre der übliche Schluß auf frei flottierenden Egoismus und ichbezogenes Meistbegünstigungsprinzip voreilig. Soziales Engagement ist dem Befragten wichtig, viel wichtiger als politisches. Überschüssiges Geld würden sie lieber an eine private Hilfsorganisation abtreten als ans Finanzamt. Als "Gewinner" bezeichnet die Studie das Lager der "pragmatischen Idealisten", während die "robusten Materialisten" auf der Verliererseite stehen. Nicht umgekehrt? Nein, so rum. Freundschaften, Liebe, Unabhängigkeit und Freizeit stehen als Ein-Mann-Werte hoch im Kurs. Und kosten nichts. Die junge Generation, als Vorbote einer künftigen Gesellschaft gern mikroskopiert, wendet sich entgegen den Prognosen nicht einem immer oberflächlicheren, konsumorientierten und sinnentleerten Dasein zu.

Das müßte all jene freuen, die in der Konsumversessenheit den ewig bevorstehenden Untergang des Abendlandes heraufdämmern sahen. Weniger froh wird sein, wer Konsum als notwendige Voraussetzung der Marktwirtschaft begreift. Das Nachkriegsmotto "Wer essen will, muß auch arbeiten" hat schon seit längerem an Durchschlagskraft verloren. Nun gerät auch ein zweites, ungeschriebenes Gesetz in Vergessenheit: Wer arbeiten will, muß auch essen. Und zwar etwas Teures. Oder anders: Ohne Konsumenten keine Investoren und keine Jobs.

Wie immer, wenn ich nicht weiterweiß, rufe ich meinen Freund F. an. "F.", sage ich, "seit ich dich kenne, schläfst du auf einer alten Matratze. Deine Kleider hängen auf einem fahrbaren Gestell, das Geschirr stapelst du auf der Fensterbank. Warum kaufst du nicht Bett, Schrank und Küchenregal?" - "Was!", ruft F. entsetzt. "Modernität ist Mobilität, heutzutage braucht man Luftwurzeln. Eigentum verpflichtet, und zwar zum Möbelschleppen beim nächsten Umzug." Damit gebe ich mich nicht zufrieden. Wer viel verdient, kann sich ein Umzugsunternehmen leisten. "Stimmt", gibt F. zu, "aber große Summen für nichts auszugeben hat etwas Unappetitliches." Deshalb trinkt F. auch keinen Cappuccino bei Mitropa. Aus Prinzip. "Geldausgeben", sage ich, "war mal ein nettes Hobby. Ist es dermaßen in Verruf geraten, bloß weil ein paar Konsumextremisten es eine Weile übertrieben haben? Stellen wir jetzt eine neue Kollektion auf dem Laufsteg der Weltanschauungen vor: die Neo-Askese? Was ist mit dem Prinzip Gregor passiert?"

Wer viel fragt, wird von F. mit einer Theorie bestraft. Es ist ganz einfach: Unsere Gesellschaft fällt sukzessive vom Glauben ab. Der Tod Gottes liegt lang zurück, auch die Trauerzeit ist vorbei. Der so genannten Politikverdrossenheit sehen wir mit schreckgeweiteten Augen entgegen, während sie längst eingetreten ist. Nach der Emeritierung von Religion und Politik verlieren nun die Götzen der Wirtschaft an Sinn stiftender Kraft. Die Abkehr vom Wirtschaftlichen ist die letzte Stufe eines logischen Dreischritts. Wir glauben nicht mehr daran, daß Mars mobil macht, Edeka besser als Aldi ist und in tollen Autos tolle Typen sitzen. Abgesehen von global organisierter Globalisierungsgegnerschaft gibt es eine stille, private und gerade deshalb ernst zu nehmende Verweigerung. Sie speist sich aus der Erkenntnis, daß, wer kein Geld verbraucht, auch keines verdienen muß. Irgendwann muß schließlich zu Ende geführt werden, was die Aufklärung angezettelt hat. Sich mit Ersatzsystemen durchschlagen - das kann jeder.

Fliegen wir also demnächst aus dem letzten transzendentalen Obdachlosenheim? Wenn ja, werden wir vielleicht feststellen, daß das Wetter draußen wärmer und trockener ist als befürchtet. Im Grunde sind wir dabei, Uneigentliches durch das Eigentliche zu ersetzen. Genau wie Religion und Politik dient der Wirtschaftskreislauf den sich gegenseitig bedingenden Essenzialien menschlichen Zusammenlebens: Regulierung und Kommunikation.

Durch Geld, beim Verdienen und Ausgeben, drückt der Einzelne seine Anerkennung oder Ablehnung bestimmter Produkte, Ideen und Entwicklungen aus und erfährt umgekehrt Wertschätzung oder Ablehnung seiner selbst. Seit technische Mittel den Gedankenaustausch eines jeden mit jedem zu ermöglichen beginnen, wird Geld als Medium der Wertschätzung überflüssig. Inzwischen widmen Menschen Stunden um Stunden dem Erstellen einer Homepage oder dem Schreiben einer neuen Software, nicht, um daran zu verdienen, sondern, um zu hören, daß ihre Arbeit gut war und anderen weitergeholfen hat. Und bei Ebay ist der beste Verkäufer nicht der mit den teuersten Produkten, sondern jener mit den meisten positiven Bewertungen.

"Stopp", unterbreche ich F., "erzähl mir nichts von der Einleitung des Postkapitalismus durch Internet-Kommunikation. Daran glaube ich, wenn die erste Open-Source-Bäckerei in meiner Nachbarschaft eröffnet hat." - "Darum geht's nicht", sagt F. "Die Kommunikationstechnologie ermöglicht es, ein grundlegendes menschliches Bedürfnis zu befriedigen. Wenn dieses Bedürfnis nicht mehr über ökonomisches Verhalten vermittelt werden muß, verliert der Konsum seine Kompensationsfunktion und die Wirtschaft damit eine Triebfeder." - "F.", sage ich, "willst du mir erklären, daß du keinen Kleiderschrank besitzt, weil du E-Mails schreiben kannst?"

Sobald meine Telefonrechnung die Mietzahlungen übersteige, würde ich ihn verstehen, sagt F. und legt auf.

Wer oder was auch immer dabei ist, das Prinzip Gregor zu verabschieden - die endgültige Suspendierung hätte jedenfalls ein Gutes. Arbeitszeitverkürzungen als Jobsharing-Maßnahme werden wir mit Freude entgegennehmen. Der bevorstehenden Senkung des Lebensstandards erwidern wir achselzuckend: schon geschehen. Wir warten auf Nachricht, ob Gregor tatsächlich zum Jahresende bei Whoever & Whoever Incorporated kündigt. Danach werden wir uns Abend für Abend mit einem Lächeln auf den Lippen und einem recycelten Teebeutel in der Tasse auf unsere Strohmatten legen.


Juli Zeh über die neue Bescheidenheit junger Leute
Zeh, 28, lebt in Leipzig und Zagreb, sie veröffentlichte zuletzt das Buch
"Die Stille ist ein Geräusch. Eine Fahrt durch Bosnien" (Verlag Schöffling & Co.).


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